Weite der Natur, Weite des Geistes – »Seelenlandschaften – Schottland« Ein Film von Rüdiger Sünner

Sehnsucht nach weiter, unberührter Natur – hat das auch mit unserem eigenen Land zu tun, das eines der am dichtesten besiedeltsten der Welt ist? Derlei trübe Gedanken verflüchtigen sich glücklicherweise schon in der ersten Filmminute. Die Kamera schwebt über dem Meer, bewegt sich rückwärts, den Blick auf immer neue Ruinenlandschaften freigebend, die sich waghalsig auf meerumtosten Klippen auftürmen, bis das Bild unvermittelt zur Ruhe kommt, um die eindrucksvolle Hintergrundfolie für die nun erfolgende Titeleinblendung abzugeben: Seelenlandschaften – Schottland. Wären da nicht die durchs Bild fliegenden Möwen und die nach wie vor heranrollenden Wellen am Bildrand, könnte man meinen, die bewegten Bilder seien unvermittelt eingefroren und durch ein Standbild abgelöst worden. Erstaunlich, was heutige Drohnentechnik vermag! Doch auch dieser Gedanke führt auf eine falsche Fährte. Spektakuläre Kamerafahrten und High-Dynamic-Range-Protzerei als Selbstzweck lagen dem Regisseur schon immer fern, bei ihm werden atemberaubende Bilder von aus dem Off gesprochenen Zeugnissen einer persönlichen Suche kontrapunktiert, die den eigentlichen Antrieb für seine filmischen Reisen bildet. Das wird schon in der eigentlichen Anfangseinstellung deutlich, die den Filmemacher nachdenklich auf dem Parkettboden seiner Berliner Wohnung zeigt, umgeben von einem Halbkreis aus Schwarzweißfotografien, die Motive seiner Schottlandreisen zeigen, diese nachdenklich sortierend und auswählend – ein Bild, das geeignet ist, die Wirkung der äußerlich vollzogenen Reise auf den »Weltinnenraum« zu veranschaulichen.

Nach England und Wales in der ersten Folge der auf drei Teile angelegten Reihe Seelenlandschaften darf der Zuschauer nun also nach Schottland mitreisen – für Sünner, den dessen weite Landschaften und stillen Kultorte seit seinem ersten Besuch 1987 nicht mehr losgelassen haben, ein »Mutterland«, ungeachtet seiner rauen Wildheit, die vor allem an den Küstenregionen spürbar wird. Zu den im Film aufgesuchten sublimen Bildern von Küsten und Klippen gehören neben dem Dunnottar Castle in Aberdeenshire – die eingangs erwähnten Ruinen – vor allem die Seelenorte und Landschaften der Orkney Islands. Besonders eindrücklich im Hinblick auf den Totenkult, der hier vor 5.000 Jahren betrieben wurde: die South Ronaldsay Cliffs mit dem sogenannten Tomb of the Eagles, eine steinzeitliche Grabanlage in den Klippen, in der sich neben menschlichen Überresten auch Knochen von Seeadlern erhalten haben, die von den hier einstmals ansässigen Menschen als Seelenvögel und Jenseitsbegleiter betrachtet worden sein könnten.

Dieselbe Aufmerksamkeit jedoch legt der Film auf stille Landschaften und touristisch unerschlossene Natur, die gleichermaßen geeignet sind, unsere poetische Imagination zu entzünden, wie etwa die Fairy Pools auf der Isle of Sky, traumhafte Seen und Wasserfälle, die es dem Besucher leichtmachen, sich mit dem Gedanken an nächtliche Baderituale von Feen anzufreunden. Auch der Clootie Well in der Nähe von Munlochy, eine magische Quelle auf der Black Isle ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Hier zeugen Stoff-Fetzen in den Bäumen und Sträuchern von der Heilkraft, die sich Menschen noch heute von der intakten Natur erhoffen. Wie es heißt, lösen sich mit den Kleidern, die zuvor Wunden oder erkrankte Körperteile bedeckt haben, auch die Gebrechen derer, die diese hier hinterlassen haben. Wie schon in dem Vorgängerfilm über England und Wales dürfen solche Orte auf besondere Gunst des Regisseurs hoffen, in denen sich alte Kulte und volkstümliche Bräuche ganz natürlich neben einem keltisch geprägten Christentum erhalten konnten. Ein Hauch davon ist selbst in den touristisch herausgeputzten Straßen von Edinburgh, bekanntlich der Geburtsort von Harry Potter, erhalten geblieben: Die stolzen Schotten tolerieren zwar Feen und tolerante Kirchenmänner –der globale Einheits-Look durch die übliche Amerikanisierung samt Leuchtreklamen und Fast-Food-Ketten ist dem hübschen Städtchen bislang hingegen erspart geblieben.

Martin Weyers

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