Kapellen, Dolmen, Heilige Quellen »Seelenlandschaften – England und Wales«. Ein Film von Rüdiger Sünner

Von Bach über Rilke bis C. G. Jung: In kontemplativen Bildern und kunstvoll verdichteten Kommentaren führen die Filmdokumentationen von Rüdiger Sünner über die Horizonte biographischer Aspekte weit hinaus. Ein Raum öffnet sich, in dem die Positionen der Vergangenheit wiederaufleben, um uns Nachgeborenen auf eine Weise zu begegnen, als wären sie für uns Heutige verfasst. Die Erwartungen an die neue Reihe der «Seelenlandschaften«, in der der Filmemacher europäische Landschaften vorstellt, zu denen er eine besondere persönliche Bindung verspürt, sind also hochgesteckt.
Der bereits vorliegende erste Teil der Reihe (über England und Wales) lockt mit Bildern von Kapellen, Dolmen, Heiligen Quellen – eine Einladung zur Reise in eine vor- und frühchristliche Vergangenheit. Dass diese zugleich zu einer Reise nach Innen gerät, ist wohl genau das, was der Autor mit der neuen Reihe bezweckt. (Filmische Reisen nach Schottland sowie zu deutschen Seelenorten werden folgen.) Ungebunden an ein biographisches Gerüst, darf sich die Magie von Natur und steinernen Zeugen der Vergangenheit auf ihre eigene Weise entfalten. Zuweilen gehen naturreligiöse und christlich geprägte Erfahrungsweisen fernab vom Zugriff kirchlicher Autoritäten eine ungewohnt harmonische Verbindung ein.
Mit dem Hochglanz-Seelenbegriff der Lifestyle-Branche, die angesichts luxuriöser Rückzugsorte für zivilisationsgeplagte Gutbetuchte von »Soulscapes« (so auch der englische Titel) spricht, hat dies alles glücklicherweise nichts zu tun. Ist der hier zugrundegelegte Seelenbegriff ein rein metaphorischer – oder geht es womöglich um eine Kommunikation mit der Landschaft, dem inneren und äußeren Austausch mit einer »beseelten« Natur?
Historisch und etymologisch lässt sich dem Begriff in seiner hier verwendeten Weise kaum beikommen: In der Antike führen die Seelen nach dem leiblichen Tod eine schattenhafte Existenz, bevor die Seele im Christentum zum Inbegriff individueller Unvergänglichkeitsansprüche wird. »Seelenlandschaft« – das meint wohl eine Landschaft, die in uns etwas zum Klingen bringt, das vorher nicht da war, oder von dem wir vielmehr nichts wussten: Eine innere Landschaft erhellt sich durch das Licht einer äußeren.
Mit Kunstwerken haben Landschaften gemein, dass sie nicht auf Jedermann dieselbe Wirkung ausüben. Mit gleichem Recht ließe sich etwa von »Seelenmusik« oder »Seelengedichten« sprechen, wann immer ein Kunstwerk Ähnliches in uns bewirkt. Allerdings dürfte der Begriff »Seelengedicht« oder »Seelenmusik« vielen sentimental vorkommen oder gar unter Kitschverdacht stehen. Der Grund liegt wohl darin, dass wir Kitsch mit allzusehr kalkulierten Effekten verbinden – in der Natur hingegen ist nichts kalkuliert, sondern alles vorgefunden.
Das gilt auch für zahlreiche der hier gezeigten, spirituell aufgeladenen Orte. Gerade der Reiz des Verfallenen und Ruinenhaften kommt der Würde dieser unspektakulären Bauten zugute, die ihre Umgebung nicht dominieren, sondern in sie eingebunden sind, um von der umgebenden Natur im Lauf der Jahrhunderte wieder absorbiert zu werden. Die Verbindung von Natur und unprätentiösen Heiligtümern wirkt umso tiefer, als dass die Wirkung keine berechnete ist; die romantische Projektion ist hier noch nicht zum Klischee verkommen.
Eine Sonderstellung kommt den zum Schluss des Films gezeigten Rowtor Rocks in Derbyshire zu, die eher in Tradition der Phantastischen Gärten zu verorten sind. Der geheimnisvolle Ort soll auf Thomas Eyre zurückgehen, ein Mann der Kirche mit Nähe zum Druidentum, der hier in die Felsen Höhlen, Treppen und Sitze meißeln ließ.
England und Wales werden in der ersten Folge der »Seelenlandschaften« mehr von ihrer stillen Seite präsentiert – die wohl zugleich eine der schönsten ist. Auch für Kenner dieses Landstrichs dürfte der vorliegende filmische Reisebericht mit seinen unspektakulären und zugleich umso wirkmächtigeren Bildern manche Neuentdeckung bereithalten.
Sünners Film thematisiert indes nicht nur die bereisten Zielorte, sondern darüberhinaus, weitgehend unausgesprochen, die Kunst des (angemessenen) Reisens. Wie eine reinigende Grenzüberschreitung in eine quasi zeitlose Welt wirkt die Infektion, die zunächst den Autor und dann seine Begleiterin für mehrere Tage ins Krankbett zwang, bevor die Erkundungen fortgesetzt werden konnten. Den verträumt daliegenden Ruinenlandschaften wünscht man, dass sie unberührt vom Massentourismus weiterschlummern dürfen, um allein solche Menschen zu inspirieren, die bereit sind, gewisse Mühen auf sich zu nehmen, und diesen gleichsam sprechenden Orten respektvoll zu begegnen.
Wer den beiden folgen will, sei es in Form einer tatsächlichen oder bloß imaginierten Reise, dem bietet sich der 53-minütige Film als ausgezeichneter Einstieg an. Hinweise zu Streaming-Angeboten finden sich auf www.ruedigersuenner.de.

Martin Weyers

Eine Sendung zum Film in Radio evolve