Der existenzielle Sprung

Über den Tod hinaus

Wir verbannen den Tod, und doch umgibt er uns, wird von uns in die Welt gebracht. Wie kann ein neues Verhältnis zum Sterben uns selbst neues Leben schenken? Und zu einer Transformation unserer Gesellschaft beitragen, die uns mit den größeren Wirklichkeiten verbindet, von denen wir immer ein Teil sind?

 

Thomas Steininger

 

Es war eine Erfahrung, die mich nicht mehr verließ. Im Sommer 1994 saß ich in einem Boot inmitten des Ganges bei Varanasi. Vor mir brannten an den Ufern des Flusses unzählige meterhohe, lodernde und qualmende Scheiterhaufen. Auf ihnen lagen die Körper verstorbener Menschen. Der Qualm und der intensive Geruch verliehen der Szene eine archaische Qualität. Seit 3000 Jahren bringen gläubige Hindus die Leichen ihrer Angehörigen in diese heilige Stadt, um sie dort als Asche dem Fluss zu übergeben. Der Tod war mitten im Leben.

Wie aus einem anderen Universum erschien mir dieser Anblick aus dem kleinen Boot auf dem Ganges – gleichzeitig irritierend und faszinierend. Die Selbstverständlichkeit des Todes als Teil eines ewigen Kommens und Gehens war ewig weit entfernt von meinen europäischen Erfahrungen mit dem Tod.

Der verbannte Tod

Wir wissen, dass wir den Tod so weit wie möglich aus unserer Gesellschaft verbannt haben. Zuletzt war die Covid-19-Pandemie eine Erinnerung daran, wie hilflos wir als Gesellschaft dem Phänomen des Sterbens gegenüberstehen. Viele Maßnahmen waren vielleicht verständlich, aber sie legten doch unseren kulturellen Umgang mit Tod und Sterben offen. Wir waren nur in der Lage, mit technokratischen Maßnahmen auf diese zutiefst existenzielle Situation zu reagieren. Auch darin zeigte sich die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, dem Tod zu begegnen. Dabei ist genau diese Unfähigkeit, eine Wirklichkeit jenseits unserer technischen Systeme wahrzunehmen, ein Grund dafür, dass wir unsere Lebensgrundlagen bedrohen. Die ökologische Zerstörung, der Klimawandel mit seinen schon jetzt spürbaren Folgen wie eskalierenden Waldbränden und Taifunen vernichtet den Lebensraum vieler Pflanzen und Tierarten und auch für uns Menschen. Das endlose Wachstum, das unsere modernen Gesellschaften weiterhin prägt, ist eine tödliche Spirale.

Hinzukommt, dass unsere scheinbar todlose Gesellschaft auch das Mysterium verbannt hat. Der Tod zwingt uns dazu, dem großen Geheimnis, dem großen Unbekannten zu begegnen. Es ist gerade das Ende unseres Lebens, das uns dazu zwingt, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, wer wir eigentlich sind und wofür wir leben. Es gibt in unserer offenen Gesellschaft unzählige Antworten auf diese Fragen, aber können wir trotzdem gemeinsam unsere Todesvermeidung überwinden, um uns wieder als Teil des großen Kreislaufs des Lebens zu verstehen?

Eine Geschichte des Todes

In unserer modernen Kultur kommen wir allein ins Leben und verlassen das Leben allein. Das war nicht immer so. In indigenen Gesellschaften waren wir vor allem Teil einer Ahnenreihe, in der das Leben weitergegeben wurde. In diesen Gesellschaften haben wir das Leben von unseren Vorfahren erhalten und geben es an unsere Kinder weiter. In Ritualen und Zeremonien stehen die Ahnen als Ratgeber zur Verfügung, und die traditionellen Lehren der Vorfahren werden treu an zukünftige Vorfahren weitergegeben, unsere Kinder und Enkel. Man ist Teil einer Ahnenreihe innerhalb der größeren Abstammungslinie eines gemeinsamen Volkes. Dieser Ahnenkult lebt noch heute in den Hausaltären vieler chinesischer und japanischer Häuser mit ihren Bildern der Ahnen, aber auch der Enkel, umgeben von Göttern und Bodhisattvas. Bei einigen indigenen Völkern Amerikas muss ein Mörder den Platz und den Namen des Ermordeten im Familienverband einnehmen, um deren Ahnenreihe wieder herzustellen. Diese animistischen Kulturen sahen sich als Teil eines Prozesses, eines großen Werdens und Vergehens.

Unsere abendländische Tradition steht in ihrem Verhältnis zum Tod auf dem Fundament des Alten Ägyptens. Vielleicht wie keine andere Kultur haben die ägyptischen Pyramiden dem Tod, aber eben auch der Transzendenz, ein Denkmal gesetzt. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel gesellschaftliche Arbeit in die Errichtung dieser gigantischen Steindenkmäler geflossen sein muss, kann man erahnen, wie zentral das Reich des Jenseits für die Ägypter gewesen ist. Im Alten Ägypten steht eine andere Vorstellung vom Tod im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nicht die ewig sich fortführende Ahnenreihe des Lebens, sondern die Beziehung zu einer anderen Welt außerhalb der Zeit.

Die abrahamitischen Religionen sind sozusagen die Erben dieser ägyptischen Vorstellung eines Jenseits. In dieser Tradition sind wir doppelte Bürger des Diesseits und Jenseits, und unser Sterben ist auch ein Heimkommen in jene andere Welt. In der ägyptischen Kosmologie entstand eine Wahrnehmung des Unveränderbaren, des Ewigen, des Zeitlosen. Während indigene Kulturen das Heilige vor allem im ewigen Fluss des Lebendigen suchten, entstand hier eine Vorstellung des Heiligen als dem Ursprung allen Lebens. Diese Erfahrungen des Heiligen prägten die Vorstellungen der spirituellen Traditionen über den Tod als Übergang im ewigen Fluss des Lebens oder als Wiedervereinigung mit dem Ursprung allen Seins. Unsere mittelalterlichen Klöster waren Teil dieser Kultur, die im Tod auch eine Heimkehr in den Ursprung sah.

Kierkegaard und die Krankheit zum Tod

Die Moderne hat unser Verhältnis zum Tod völlig verändert. Und es gibt niemanden, der diesen radikalen Wandel früher angesprochen hat als der dänische Philosoph und Begründer des Existenzialismus Sören Kierkegaard. Er lebte Anfang des 19. Jahrhunderts in einer europäischen Gesellschaft, die mit wachsender Geschwindigkeit damit begann, ihre Beziehung zur Transzendenz und zur Dimension des Heiligen aufzugeben. Inspiriert von wissenschaftlichen, ökonomischen und imperialistischen Erfolgen der europäischen Gesellschaften suchten die Menschen in Europa ihr Heil genau in diesen Bereichen: dem wissenschaftlichen Erkennen der Welt, dem wirtschaftlichen Wohlstand, dem imperialen Machtausbau. Kierkegaard sah sich selbst als einen Rufer in der Wüste. Er war bekannt für seine sarkastische Gesellschaftskritik an den Wissenschaftsgläubigen, die die Welt nur auf deterministische Weise wahrnehmen konnten. Genauso ergoss sich sein Spott über die Spießbürger seiner Gesellschaft, die ihr Menschsein im Trivialen ihrer alltäglichen Geschäfte verloren.

Einer seiner zentralen Gedanken war, dass das aufgeklärte, wissenschaftsorientierte und pragmatische Christentum im damaligen Dänemark die Beziehung zum Tod verloren hatte. In seinem Buch »Die Krankheit zum Tod« beschreibt er, wie der moderne Mensch seiner Zeit in seiner neuen Individualität den Tod radikal neu wahrnimmt. In der neuen Betonung unserer von allem anderen getrennten Existenz sind wir dazu verurteilt, am Tod zu verzweifeln. Die einzige Kur gegen diese Krankheit zum Tode ist für Kierkegaard ein existenzieller Sprung. Ein Sprung ins Vertrauen, in Kierkegaards christlicher Sprache unser Vertrauen in Gott. Aber er versteht diesen Aufruf auch als einen absurden Schritt. Denn das Vertrauen ist in nichts anderem als sich selbst begründet. Das ist der berühmte existenzielle Sprung, den er seinen dänischen Mitbürgern zumuten wollte. Sie sind ihm nicht gefolgt. Unsere moderne Gesellschaft hat genau jene Richtung eingeschlagen, die er mit solcher Vehemenz in seiner Zeit an den Pranger gestellt hat. Die Werte der Moderne kristallisieren sich immer mehr um den unaufhörlichen technischen Fortschritt.

Was unsere Gesellschaft bewegt, ist nicht die Lebendigkeit des Lebens. Wir stehen als Getrennte und Vereinzelte dem Strom des Lebens gegenüber. Und wir haben den Bezug zum Heiligen oft völlig verloren. Das Wort selbst erscheint uns fragwürdig. Als Vereinzelte erleben wir uns in einer mehr und mehr technischen Welt, die in sich selbst nicht in der Lage ist, uns Sinn und Bedeutung zu geben. Und dann sind wir auf einmal einer Erfahrung ausgesetzt, in der die Bedeutungslosigkeit unserer materiellen Welt nicht mehr geleugnet werden kann. Diese Leere hat schon Kierkegaard gesehen. Seine Antwort war der Sprung ins Vertrauen.

 

 

 

 

Lesen Sie den kompletten Text in der evolve Ausgabe 41/2024