Claus Eurich: Kommunikation – Ferment der Evolution

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Claus Eurich

In der aktuellen Ausgabe von evolve zum Thema “Wir-Räume: Die Transformation unserer Beziehungen” untersuchen wir auch neue Formen von Kommunikation, in der wir die Trennung von Welt und Mitmensch transzendieren können. In diesem Artikel beschreibt der Kommunikationswissenschaftler und Kontemplationslehrer Claus Eurich die Bedeutung und die Hauptaspekte einer Kommunikation, die uns wieder mit der Tiefe des Lebens verbindet.

Auf der gegenwärtigen Evolutionsstufe findet der Mensch seine Identität noch immer zunächst und zumeist durch Abgrenzung. Er ist gefangen in seinen Ego-Illusionen, seinen Weltbildkonstruktionen, seinen Erwartungen und Urteilen und getrennt vom universalen Lebens- und Bewusstseinsstrom. Das Kommunizieren dient dann in erster Line dazu, diese abgespaltene Identität zu bestätigen, wird es ansonsten doch zur Bedrohung und damit auch die Menschen, die Ausgangspunkt der Kommunikation sind. Solche Kommunikation trägt die Züge eines Kampfes, in dem das Ego um Schutz und Bewahrung ringt. Verstehen des Anderen in Tiefe, ja wirkliches Verstehen überhaupt ist so ausgeschlossen, wird doch jede Botschaft den Koordinaten des geistigen Ego-Systems untergeordnet und eingepasst bzw., wenn dies nicht gelingt, als Verletzung oder Kränkung wahrgenommen. Kommunikation in diesem Sinne blockiert Entwicklung auf allen Ebenen, stemmt sich den anstehenden Schritten vom kleinen Ich zum großen SELBST vehement entgegen. So entstehen und bleiben Ungerechtigkeiten, so entstehen fortwährend Kriege, im Kleinen wie im Großen, zwischen Mensch–Mensch, Nation–Nation, Religion–Religion, Kultur–Kultur und Mensch–Erde.
Zugleich liegt in der Kommunikation, in Verbindung mit den notwendigen selbstreflexiven Prozessen, der Intrakommunikation sozusagen, der Schlüssel zur Heilung, zur Ganzheit des Menschen. Denn wenn eine kurze Umschreibung dessen, was der Mensch sei, trifft, dann ist es der Verweis auf das Sein als Kommunikation. Wir wären nicht ohne sie, mag sie auch noch so blockiert sein. Alles, was wir tun und nicht tun, was wir sagen und verschweigen, wie wir uns geben und verhalten, enthält eine Botschaft an unsere Umwelt, unsere Mitwelt und unsere Innenwelt. Der Blick, die bewusste oder unbewusste Geste, der Gesichtszug und die Körperhaltung gehören dazu. Sie bringen etwas zum Ausdruck. Leben heißt kommunizieren.
In der Intention und in der Weise des Kommunizierens finden jede innere Haltung, jede Tugend und jedes Ethos ihre reinste Gestalt. Und durch Sprache, Haltung, Geste und Ausdruck tritt Spiritualität ins Leben, öffnet sie den Raum der Begegnung mit dem Göttlichen.
Miteinander-Teilen
Gelingende Kommunikation wird zur Mit-Teilung. Geteilt werden die Botschaften, deine und meine, geteilt werden Mimik und Gestik sowie die ganze Befindlichkeit inklusive unserer Leiblichkeit und ihrer wechselseitigen Wahrnehmung. Aus all diesen Elementen des Persönlichen und des Gemeinsamen entsteht in der Situation der eigentliche und umfassende Informationsgehalt. Zugleich stiftet Kommunikation Beziehung. Sie hat also einen Ausdrucks-, einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Deren Zusammenfallen im Akt der Begegnung macht sie hochkomplex und störanfällig. Denn jeder Mensch bringt sich immer umfassend mit ein in die Begegnung, mit seinen Wahrnehmungsspezifika, seinen Emotionen, Verwundungen, Erwartungen, Belastungen und Hochphasen. Kommunikation im Vorzeichen dieser Komplexität wird so zum Ringen um die gemeinsame Schnittmenge und ihre Vergrößerung. Sie wird zur Arbeit an dem Raum, der eine möglichst große gegenseitige Resonanz ermöglicht.
Martin Buber hat in seinen zahlreichen Arbeiten über den Dialog herausgestellt, dass Begegnung sich umso tiefer und authentischer ereignet, je weniger Kommunikation als Belehrung stattfindet, in ihr also darauf verzichtet wird, auf den Anderen einwirken zu wollen. Ja, ließe sich ergänzen, sie sollte sogar fern jeglichen Wollens und der damit verbundenen Erwartungen stehen! Begegnung in diesem Sinne richtet sich auf die Potenzialität des Du und damit auf seine Ermöglichung. Achtung und Respekt gegenüber dem Kommunikationspartner sowie in der Folge die Annahme und Wertschätzung seiner Persönlichkeit bilden das Fundament dazu. Einer Annahme des Du gleichwohl geht immer zunächst die Selbstannahme voraus. Trete ich mir und meinen Interessen bzw. meinen Bedürfnissen nicht mit Verständnis gegenüber, wird mir dieses in Ehrlichkeit und Tiefe auch kaum hinsichtlich des Anderen gelingen. Mich selbst und den Anderen im Prozess der Kommunikation wahrhaftig anzunehmen, das meint, zu mir und zu dem Du als Mensch ja sagen. Vorprägende und vorgefasste Meinungen und Urteile sind tödliches Gift dafür.
Achtsamkeit und feinsinnige Bewusstheit nach „innen“ und nach „außen“ bilden die Schlüsselkoordinaten einer Schule kommunikativer Kompetenz. Die achtsame Haltung bezüglich unserer Wirklichkeitswahrnehmungen lebt davon, Beobachtung und Bewertung zu trennen. Dies betrifft sowohl jede unmittelbare Wahrnehmung einer Situation als auch die Wahrnehmung von uns selbst in einer Haltung der Zeugenschaft. In ihr beobachten wir uns gleichsam in unserer Rolle als Beobachter und schaffen damit die notwendige Distanz zu dem Eigensinn, der jede unserer eigenen Beobachtungen prägt und zu verfremden vermag.
Wahrnehmung erschafft alle Vorstellungen und Bilder von Wirklichkeit. Wir sehen und erkennen, was wir uns selber geschaffen und als Möglichkeiten des Erkennens herausgebildet haben. Die menschliche Wahrnehmung und die Koordinaten der Wahrnehmungsmöglichkeiten befinden sich in einem infiniten Prozess der Veränderung. Die kontinuierliche Schulung der Wahrnehmungsorgane, und zwar der äußeren sowohl als auch der inneren, geistigen, bildet den Humus für diese Entwicklung. Sie sichert auch die Entkettung aus einem oft versklavenden System von Bewusstseinsprogrammierungen, die auf unsere Erinnerungen und damit verbundenen Gefühle zurückzuführen sind.
Achtsamkeit, Wahrnehmungstiefe und (Selbst-)Reflexivität erschaffen Kommunikation immer wieder neu. Sie entwerfen und gestalten Kommunikation als einen eigenen Lebensraum. Sie gehen einem wirklichen Sich-Einlassen auf das Gegenüber, den Anderen, das Du voraus.
Dies geschieht allerdings nicht nur im Wort und im auf das Wort bezogenen Verständnis und Vertrauen. Es drängt ans Licht auch in der verständnisvollen Stille und dem tiefen Schweigen, die dann an die Stelle des Wortes treten, wenn es in innerer Sammlung um das Erspüren des Geheimnisvollen geht, das an Sprache doch nur zerschellen würde. Denn das sollte im Bewusstsein bleiben, dass Sprache, bei aller Kostbarkeit und Vielfalt, doch immer der Ausdruck der Endlichkeit und des Endlichen bleibt. Nie vermag sie hinreichend zu umschreiben, was ist, nie einer inneren Wahrnehmung im äußeren Wort vollständig gerecht werden. Das Wort benennt, und es trennt. Es ist Symbol für die zerfallene Einheit, die sich in der Unterscheidung nicht wieder finden kann.
Die nun folgenden Leitwerte richten sich auf eine gelingende und der Ermöglichung von Mitwelt und Selbst dienende Kommunikation aus. In ihnen drückt sich als allem zugrunde liegendes Axiom die Gewaltfreiheit aus. Worte, Gesten, Haltung und auch das Schweigen wollen nicht als Waffen missbraucht werden. Kommunikation folgt nicht dem Ziel, zu siegen.
Wahrhaftigkeit
Der Absolutheitsanspruch einer für alle Menschen gültigen Wahrheit kann wohl nie eingelöst werden. Wir beobachten, erklären und urteilen immer standortgebunden. Was möglich ist, drückt sich als Streben nach Wahrhaftigkeit aus und als der immerwährende Versuch des Ringens um eine teilbare „Wahrheit“ als Verständigungsgrundlage.
In diesem Ringen, das durchaus Mut erfordert, widerstehen wir der allseits präsenten Versuchung, sich in Selbsttäuschungen, bequemen Falschheiten und tröstlichen Illusionen einzurichten. Es weist den Weg zu der mir möglichen Authentizität und Aufrichtigkeit.
Empathie
Empathie hebt als besondere Wahrnehmungsweise in das Bewusstsein, was Leben verbindet, und sie aktiviert diese Verbindung. Vorsichtig tastend bewegt sie sich zwischen Nähe und Distanz, Fremd- und Selbstwahrnehmung, Ich- und Wir-Verständnis. Umschreiben lässt sich diese behutsame Bewegung als Zeugenschaft. Das einfühlende Verstehen, das wir Empathie nennen, setzt die Bereitschaft zur Ausrichtung auf das Gegenüber und es setzt Empfänglichkeit voraus. Es lebt von der intrinsischen Bereitschaft, das zunächst möglicherweise Fremde, Ungewohnte und auch Unverständliche trotzdem verstehen zu wollen. Bevor ich allerdings in der Lage bin, die Erlebnisse, Gefühle und das Selbstbild des Anderen zu verstehen, muss ich mich selbst erkannt und verstanden haben, um Überlagerungen, Projektionen und blinden Flecken so weit wie möglich vorzubeugen, aber auch um die Gründe zu verstehen, wenn eigene Emotionen das Fremdverstehen blockieren.
Hören
In einer Zeit, die sich in Texten, Tönen und Bildern verliert, in der die Sinne zerrieben werden durch den ununterbrochenen Schwall der Worte und medialen Berieselungsmaschinen, ist das Hören zu einem nahezu vergessenen Kulturgut geworden. Rechtes Hören geschieht in sensibler Offenheit aller Sinne.
So geht es also nicht bloß um Nicht-Sprechen als einem äußeren Still-Sein. Vielmehr beruht gesammeltes Hören auf gesammeltem tiefem Schweigen. Solches Schweigen sagt ja zum anderen. In ihm ereignet sich das Hören mit der Seele. Es gibt der Rede Sinn und ermöglicht dem Wort oder Ausdruck des Gegenübers das Gewicht, welches ihm zusteht. Nun entfaltet sich schöpferische Energie. Sie ermöglicht den, dem zugehört wird, und sie ermöglicht zugleich den Hörenden selbst. In der Tiefe des Hörens entsteht der Raum, der ins Werden bringt, was ansonsten blockiert bliebe.
Offenheit
Wahrhaftige und empathische Kommunikation fordert nicht. Menschen wollen sich begegnen, statt einander zu belehren. Sie teilen die Bereitschaft, sich füreinander zu öffnen und sich aufeinander einzulassen. Die Begegnenden sehen sich in ihrer Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit und gestehen sich das gegenseitig als ursprüngliches Recht zu. Damit halten sie sich im Gespräch und grenzen sich nicht aus. Selbstannahme und Fremdannahme schreiben sich in solcher Grundtoleranz kontinuierlich und integral fort.
Ambiguitätstoleranz
Der Widerspruch bewegt als Motor die geistige und kulturelle Evolution. Wirklichkeit stellt sich in der Folge mehr oder weniger durchgehend als unsicher, uneindeutig und kontingent dar. In der Wahrhaftigkeit nach Wahrheit zu streben, kann deshalb an dieser Stelle nichts anderes meinen als zu lernen, Widersprüche als Teil und aufgehoben in einer Wirklichkeit zu sehen, die größer ist als die meiner eigenen Weltbildkonstruktion. Eiliges Streben nach Eindeutigkeit führt demgegenüber an Vereinfachungen, Blindheiten und schablonenhaftem Denken vorbei. Ambiguitätstoleranz hält aus. Sie erträgt den Widerspruch und die damit möglicherweise verbundenen Schmerzen. Nicht voreilig Gewissheiten zu konstatieren darf selbstredend der aktiven Auseinandersetzung mit Unterschieden und Differenzen nicht entgegenstehen. Im Gegenteil. Entscheidend ist die Weise des Ringens und des Klärens, die Bereitschaft aller Beteiligten, ihre Standpunkte zu riskieren.
Vorwürfe aushalten
Die im Alltag so fragile Haltung des Nichtverletzens gerät durch Angriffe anderer Menschen, durch ausgesprochene, aber auch unausgesprochene Vorwürfe, durch Verleumdungen und durch Zurückweisungen schnell auf den Prüfstand. Im Herzbereich des Selbstwertgefühls getroffen, folgt die Reaktion normalerweise unmittelbar. Manchmal mag dies unvermeidbar sein, um weiteren Irrungen vorzubeugen, indem Dinge klargestellt und Irrtümer aufgeklärt werden. Doch oft entfacht erst die Reaktion das Feuer des Streits, dem sich Gewalt in Sprache und möglicherweise im Verhalten insgesamt fast unvermeidlich beimengt. Im Zweifelsfall bewährt sich nichtverletzende Kommunikation durch Hinnahme und Ertragen. Was meint das?
Wer Vorwürfe zunächst aushält, gibt dem Anderen die Chance, durch sich selbst zu lernen, ohne belehrt zu werden. Selbstredend gilt dies in gleichem Maße für den, der zunächst nicht mit gleicher Münze auf den erhobenen Vorwurf reagiert. Auch er muss nun erst einmal bei sich selbst verbleiben. So erhält er die Gelegenheit, das ihm Vorgehaltene zu prüfen, einzutauchen in die Tiefen, aus denen der Vorwurf, der ihn traf, erstand und sich damit im Abstand auseinanderzusetzen. Dann kann das Gespräch erst im eigentlichen Sinne beginnen. Das Aushalten und das Ertragen eröffnen also einen Prozess, sie beenden ihn nicht!
Vergebung
Vergebung lehrt, dass Geben und Empfangen eins sind. Indem wir das Verzeihen schenken, empfangen wir die eigene Erlösung. Vergebung wandelt das Denken über einen Menschen oder ein Kollektiv, die uns Unrecht oder Leid zugefügt haben. Zugleich vollzieht sich dadurch eine Wandlung im Denken über uns selbst. Diese Wandlung reinigt, veredelt, ja sie verzaubert gelegentlich. Damit sie dies anzustoßen vermag, muss sie unteilbar sein. Sie ist umfassend, oder sie ist nicht. Vor allem stellt sie keine Bedingungen.
Vergebung läutert. Statt von Hass und Wut zerfressen zu werden, richtet sich der Blick des Menschen auf das Schöne. Das kann jetzt auch in demjenigen wieder befreit werden, der Schuld auf sich lud. So schmilzt Vergebung das Eis, das in Negativität erstarren ließ. Ihr Auge dringt durch zur tiefen Unschuld, die im Herzen eines jeden Lebewesens ruht.
In der Kraft und Schönheit dieser Erfahrung steigt unweigerlich der Impuls empor, wieder neu auf das Du, von dem die Verletzung trennte und an das die Vergebung neu heranführen will, zuzugehen.
Vertrauen
Nur wo gegenseitiges Vertrauen herrscht, haben Versöhnungsgesten die Chance, wahrgenommen und angenommen zu werden. Im Vertrauen lassen wir einen Teil von uns los. Wir verzichten auf den Drang zu kontrollieren und begeben uns in eine Sicherheit, die nicht auf Beweisen gründen kann. Das hat viel mit Hingabe zu tun. Wir lösen uns aus der Zwangsjacke nagenden Zweifels, bringen dem Du Vertrauen entgegen und sprechen es aus. Eigentlich offenbaren wir ihm dadurch nur die Potenzialität seines eigenen Wesens.
Mit dem Du zum Selbst
In der wahrhaften Kommunikation wächst der Mensch in der Spiegelung durch das Du zu seinem Selbst. In der Erfahrung wechselseitiger Verbundenheit und in dem Verständnis, in der Welt aufzugehen, entsteht Identität und erfährt sich eine Person als vollständig. Zu dieser Erfahrung gehört aber auch, sich nicht nur in die Welt hineingegeben zu sehen, sondern zu lernen, dass die Welt durch das Du sich auch in mir beheimatet. Sein ist immer nur mit anderem Sein möglich und kommt nur dadurch zu sich selbst. Das beginnt von Mensch zu Mensch und erweitert sich in einem Prozess der Transzendierung und der Transformation von hier aus potenziell auf die Begegnung mit dem Leben an sich in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen, die geistigen Welten und das Göttliche inbegriffen.

Vgl. ausführlich:
Claus Eurich: Mensch werden. Ein Appell an unsere Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft. Wiesbaden 2013, S. 147–162
Claus Eurich: Wege der Achtsamkeit. Über die Ethik der gewaltfreien Kommunikation. Petersberg 2008

Prof. Dr. Claus Eurich ist Kommunikationswissenschaftler an der TU Dortmund, Kontemplationslehrer, Leiter der Akademie für Führungskompetenz am Benediktushof Holzkirchen.

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