Leserstimmen evolve 31

Es gibt vieles, das mir in der evolve 31 sehr gut gefallen hat. Besonders herausheben möchte ich noch zwei Aspekte des Gesprächs mit Cynthia Bourgeault: die Dynamik eines Chiasmus’ und die »Öffnung des gesamten Körpers zu einem Instrument der Erkenntnis«. Beide Aspekte waren genau die, die in mir nach der Lektüre ihres Buches »Das Auge des Herzens« stark nach hallten. Ich war also hoch erfreut, genau über diese Punkte in dem Interview etwas mehr zu erfahren.

Die Dynamik eines Chiasmus’ beschreibt eine »imaginale Kausalität«. Eine Kausalität, die ein anderes Verständnis und eine andere Wahrnehmung von Zeit voraussetzt: statt eines chronologischen Ablaufs von Prozessen wird hier eine Sicht auf Prozesse offenbar, in der »ganze Bruchstücke und Fragmente und manchmal auch zeitlich verdrehte Geschichten, in denen die Zeit zugleich vorwärts und rückwärts verläuft, zusammengehören«. Das ist einfach großartig beschrieben! Auf diese Weise Prozesse zu betrachten, findet ab sofort Eingang in meine Wahrnehmung der Welt! Danke dafür.

Die Rolle des Körpers beschreibt Bourgeault so: »Viele der alten Traditionen haben den Körper als Gefäß verstanden, durch welchen das imaginale Wissen in die Welt getragen werden kann.« 

Dazu schreibt Cynthia Bourgeault in ihrem Blog über Jean Gebsers »Ursprung und Gegenwart« (cynthiabourgeault.org/2021/05/23/enstasy): »Die Gurdjieff-Arbeit dient in jeder Hinsicht dieser rigorosen Intensivierung von Präsenz, die sowohl Voraussetzung als auch erste Frucht der emergierenden Integralen Bewusstseinsstruktur ist.« Und Gurdjieff selbst sagt: »Nur wenn unsere Präsenz in der lebendigen Wahrnehmung unserer Körper begründet ist, kann das »Ich Bin«, unsere wirkliche Präsenz, erwachen.«

Jochen Hansen, Schwarzenbeck


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Das Thema Mythen hat mich elektrisiert! Dies nicht nur wegen der sehr guten Beiträge zu diesem Thema im letzten Heft, sondern auch, weil mich die Schnittmenge zwischen Philosophie, Spiritualität, Religion und moderner Naturwissenschaft schon seit meinem Studium – vor bald 50 Jahren – noch immer fesselt! Die große Spannbreite zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie/Theologie ist für mich das Feld, in dem Epistemologie und Wissenschaftstheorie nicht deckungsgleich sind. Allein der Begriff »Theorie« bedeutet schon eine inhaltliche Weichenstellung!

Mythen klangen einst wie Musik im Innern allen Seins und Daseins. Obwohl die Musik zwar in Noten »festgehalten« werden kann, ist ihr eigentliches, nicht physikalisches, sondern meta-physikalisches Wesen eine nicht fest-stell-bare, komplexe energetische Dynamik. Ähnlich verhält es sich mit den Mythen, deren »Musik« in den mythischen »Bildern« steckt.

Das Problem unserer ach so klugen Moderne ist heute der Umstand, dass unsere schicke und intelligente Gegenwart hinter den hohen Bergen und Bauten ihrer Intelligenz und Raffinesse das subtile Gehör für diese meist leisen, oft traurigen »Töne« der Mythen, zu dieser Innenseite, zu diesen tiefen »Kellern« und »Quellen« der Schöpfung verloren hat.

Unser objektivistisch-geistferner Materialismus stellt für alles konkret sachliche Handeln und Herstellen einen riesenhaften, technischen Bau- und Schalt- und Funktionsplan bereit. Die strenge Norm dieser modernen Sachlichkeit reduziert alle Lebendigkeit und allen Geist auf die maschinenhafte Vorstellung von einer Art Computerfunktion in einem globalen Netz.

Die durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch kultivierten Erzählungen aus diesem seelisch-magischen Raum, die sagenhaften Märchen und Mythen haben im Licht unserer hochintelligenten Gegenwart allenfalls noch Unterhaltungsfunktion. Der ursprüngliche Sinn dieser mythischen Erzählungen aber war nicht die Unterhaltung, sondern der Zugang, die Orientierung, Kultivierung und Pflege des sozialen und vor allem des seelischen Raums.

Mit dieser strengen Versachlichung des subjektiven Innenlebens aller lebendigen Wesen ist auch das Gespür für die Kultivierung unserer emotionalen, seelisch-geistigen Achtsamkeit, Sensibilität und Präsenz in Mitleidenschaft geraten. Sagen, Märchen und Mythen waren und sind sinnvoll und wertvoll, wenn sie auf der Symbolebene dazu dienen, unsere »inneren Räume« zu erfahren, zu deuten und zu kultivieren.

Bleibt also nur die Frage: wie kann es unter den Bedingungen der Moderne gelingen, die Verbindung zwischen unserer vergegenständlichten Gegenwart und unserer mythisch-magischen Herkunft wieder lebendig werden zu lassen?

Karlheinz Gernbacher, Bad Schwalbach


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