Thomas Nagel “Geist und Kosmos” in der Diskussion Teil 2 – von Oliver Griebel

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Das Buch “Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist” des Philosophen Thomas Nagel hat in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erregt, hinterfragt Nagel darin doch die Grundlagen des wissenschaftlich-materialistischen Weltbildes. Auch in unserer Redaktion sind einige Diskussionsbeiträge zu Nagels Argumenten eingegangen, die wir hier nach und nach veröffentlichen werden. (Teil 1: Endlich sagt das mal jemand von Mike Kauschke; Teil 3: Ein „post-szientistisches Zeitalter“? von Axel Ziemke)

Dilemma eines modernen Denkers

Oliver Griebel

Gute Nachrichten für alle, die daran glauben, dass die Entstehung von fühlenden und denkenden Wesen wesentlich zur Entwicklung des Universums dazugehört. Auch Thomas Nagel, Professor an der New York University und sicher einer der wichtigsten Philosophen unserer Zeit, hat vor kurzem diese Überzeugung vertreten. Sein Buch „Geist und Kosmos“ zu diesem Thema wurde nicht nur bereits in evolve rezensiert und im info3-Blog besprochen – es schaffte es sogar bis in die „Zeit“ und die „FAZ“. Wieso hat dieses Buch so viel Aufsehen erregt? Es ist kein buddhistisch inspirierter Autor und auch kein christlicher Philosoph, der hier bestreitet, dass Leben und Geist aus einem physikalischen Zufall entstanden sein können. Nagel ist Atheist! Und er ist Naturalist, das heißt, er glaubt an eine Ordnung der Dinge, die aus sich selbst heraus funktioniert und in sich geschlossen ist, so dass insbesondere der menschliche Geist keines Ursprungs von außerhalb dieser Natur-Ordnung bedarf.

Aber Nagel gehört nicht – und das ist wichtig – zu den Materialisten in dem Sinn, wie man den Ausdruck heute normalerweise versteht. Diese so genannten reduktiven Materialisten (oder Physikalisten) glauben, dass die Welt insgesamt und alle Dinge darin, insbesondere auch das Leben und der menschliche Geist, restlos aus Naturgesetzen erklärt werden können, die letztlich zurückzuführen sind auf die Physik der kleinsten Teilchen, aus denen alles besteht. In den letzten Jahrzehnten haben sie philosophisch wirklich alles versucht, um zu erklären, wie man den menschlichen Geist auf seinen Körper reduzieren kann. Und jeder einzelne ihrer Ansätze ist in sich zusammengebrochen, weil er logisch und/oder begrifflich unhaltbar war. Als ich selbst vor gut zwanzig Jahren Philosophie studierte, waren den Materialisten angesichts schlagender Gegenargumente gegen jeden neuen Versuch die neuen Ideen längst ausgegangen. Aber wie von jeder Weltanschauung gilt auch vom Materialismus, dass seine Anhänger nicht so einfach von ihr lassen können, „nur“ weil sie sich als ungereimt erweist. Deshalb wird seither immer wieder versucht, den alten Wein in neue Schläuche zu gießen, zuletzt unter dem Label „Neurophilosophie“.

Thomas Nagel war mit seinem Klassiker „The View From Nowhere“ selbst maßgeblich daran beteiligt, den reduktiven Materialismus zu widerlegen. Aber seinen eigenen Atheismus und Naturalismus hat er deshalb nie aufgegeben. Zu seinem Atheismus später mehr. Zunächst zu der neuen Art von Naturalismus, die er in „Geist und Kosmos“ andeutet. Wie der Titel des Buchs schon sagt, geht es darin nicht in erster Linie um die Frage, wie der Geist des Menschen mit dessen Körper zusammenhängt, sondern darum, wie und warum Leben und Bewusstsein sich in der Geschichte des Universums entwickelt haben. Nagel kommt zu dem Schluss, dass auch kosmisch-evolutionär betrachtet der reduktive Materialismus nicht richtig sein kann. Die Ausgangsthese ist folgende: Ein physikalischer Zufall, der so etwas Besonderes und Komplexes hervorbringt, ist so unwahrscheinlich, dass man diese „Erklärung“ nicht als wissenschaftlich ansehen kann.

Warum nicht? Vielleicht kennen Sie folgende Geschichte: Eine zufällige Entstehung des Lebens ist ungefähr so, als ob ein Tornado durch einen Schrottplatz fegt, und als sich der Staub wieder legt, steht ein funktionstüchtiger Jumbojet da. Das ist übrigens eher noch untertrieben: Es müsste ein Flugzeug sein, das sogleich auf der Suche nach Treibstoff abhebt, das sich automatisch selbst reparieren kann nach Plänen, die im Flugzeug liegen. Wer käme auf die Idee, so ein Flugzeug könnte zufällig entstehen? Auch sollte man sich darüber klar sein, dass jeder noch so einfache Einzeller ungeheuer viel komplexer „funktioniert“ als die komplexeste menschengemachte Maschine. Heute sind sich deshalb auch viele wichtige Naturwissenschaftler einig, dass man für eine natürliche Erklärung des Lebens und seiner Entstehung keine Zufälle auf der Ebene der physikalischen „Basics“ braucht, sondern weitere Naturgesetze einer höheren Stufe, Gesetze, die dafür sorgen, dass die unglaubliche Komplexität selbst einfachster Lebensformen dazu tendiert, sich spontan selbst zu organisieren.

Zurück zu Thomas Nagel: Für ihn sind in der kosmischen Evolution solche Komplexitäts-Gesetze am Werk, die er etwas unglücklich „teleologisch“ nennt. Das Wort „telos“ bedeutet nämlich auf Altgriechisch Ziel oder Absicht, aber das ist hier gerade nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr etwas wie eine der natürlichen Ordnung innewohnende Tendenz, welche die Materie sozusagen von selbst in Richtung Leben zieht. Ist das Leben einmal entstanden, kommt auch die eigentliche Evolutionslehre mit der Selektion ins Spiel. Aber auch dieses Gesetz der Auslese des Überlebens- und Fortpflanzungsfähigen reicht nach Nagel nicht im Entferntesten aus, um zu erklären, dass Lebewesen Bewusstsein, Werte, Vernunft entwickeln. Es muss also hierfür noch weitere natürliche Tendenzen des Universums geben.

Das ist nun tatsächlich eine ganz neue Form von Naturalismus … aber sicher keine sehr plausible. Eine natürliche Ordnung ohne Einsicht oder Absicht, die „es“ von selbst genau in Richtung Leben und Geist „zieht“? Warum sollte es Naturgesetze dieser Art geben? Etwa zufälligerweise? Naheliegender wäre anzunehmen, dass die Ordnung der Dinge eben auch eine bewusste und geistige Ordnung ist, die in diese Richtung will. Oder – was nicht ganz dasselbe ist – dass jemand diese Ordnung so geschaffen hat, dass sich darin wie von selbst Leben und Geist entwickeln. Für Nagel ist das keine Option, denn sein persönlicher Atheismus richtet sich genau gegen dieses in der Philosophie „Theismus“ genannte Bild eines Gottes, der die Welt „von außen“ erschafft.

Als westlich geprägter Mensch kann er sich Gott anscheinend nicht anders denken. Das pantheistische Gottesbild („Alles ist Gott.“), das den meisten meditativen, fernöstlich inspirierten Spiritualitäten zu Grunde liegt, ist in Nagels Schule, der so genannten Analytischen Philosophie, kein Thema. Aber auch auf die Idee, dass die Natur-Ordnung selbst ein allumfassendes Bewusstsein besitzen könnte, kommt er nicht. So ein kosmischer Geist wäre ja eine Möglichkeit, die Tendenz des Kosmos in Richtung Leben und Geist auch ohne Übernatürlichkeit, Jenseitigkeit, Transzendenz im engeren Sinn zu erklären.

Warum nun bringt Nagel, obwohl er fest davon überzeugt ist, dass die Entwicklung des Menschen, wie er selbst es formuliert, ein „Erwachen des Universums“ ist, es dennoch nicht über sich, anzuerkennen, dass die Welt Leben und Bewusstsein hervorbringen will? Es ist wichtig, dass wir Spirituellen uns klarmachen, was für einen Fremdkörper im modernen Welt- und Menschenbild alle üblichen Arten von Gottesbilder darstellen, und zwar sowohl der christliche Theismus, der Gott und Welt radikal unterscheidet, wie auch der fernöstliche Pantheismus, der Gott und die Welt radikal identifiziert. Es gibt viele kluge Geister, die vom Unglauben vor allem ans Christentum geprägt sind, und für die es ganz einfach undenkbar ist, dass es ein modernes, natürliches Gottesbild geben könnte. Nagel selbst hat das in einem früheren Buch fast schockierend deutlich zum Ausdruck gebracht: „Es ist nicht nur so, dass ich nicht an Gott glaube und natürlich hoffe, dass ich mit diesem Glauben recht habe. Es ist so, dass ich hoffe, dass es keinen Gott gibt! Ich will nicht, dass es einen Gott gibt; ich will nicht, dass das Universum so ist.“

Man möchte fragen: Wie denn? Was wäre daran so schlimm? Es ist wichtig, Nagels Statement nicht als seine Privatmeinung abzutun. Versuchen wir lieber zu verstehen, was viele intellektuelle Menschen an der Idee, dass es einen Gott gibt, so indiskutabel, ja unerträglich finden.

Wir haben heute zwar unter säkularen Geistern wie Jürgen Habermas und in Medien wie der oben schon genannten „Zeit“ das Phänomen, dass die Religion in ihrer sozial stabilisierenden Funktion erkannt und als vielleicht sogar unverzichtbar anerkannt wird. Außerdem: Religion sells. Aber das ändert nichts an der Unfähigkeit vieler säkular denkender Menschen, wirklich ernsthaft in Erwägung zu ziehen, dass, je nach dem, „hinter der Welt“ oder „in der Welt“ ein allumfassendes, liebevolles Bewusstsein steckt. Wenn ich hier etwas Autobiographisches einflechten darf: Auch für mich als Gymnasiast vor über 30 Jahren waren meine natur- und humanwissenschaftliche Ausbildung, mein linksintellektueller Background und meine Erfahrung mit einer gar nicht so geistigen Menschheit ein Grund, aus der Kirche auszutreten. Aber ich brachte eben auch eine spirituelle Veranlagung mit, wegen der ich mich auf die Suche nach einem Gottesbild machte, das zu meinem Weltbild und Menschenbild passte.

Was für ein Fazit soll ich jetzt ziehen? Vielleicht zunächst einmal: Naturalisch-atheistisch veranlagte oder geprägte Menschen werden sich durch nichts so leicht von ihrem Unglauben abbringen lassen. Zweitens: Mich selbst hat es sehr gewundert, dass kein Platz zu sein scheint zwischen einem Weltbild, das Leben und Geist als sekundäre Erscheinungen abtut, und einem Weltbild, das einen kosmischen Geist oder einen transzendenten Gott annimmt. Thomas Nagel will keins von beiden: Das ist sein Dilemma. Und schließlich: Trotz der Unmöglichkeit des Materialismus sollten spirituelle Menschen nicht die Schwierigkeiten unterschätzen, Gott so zu denken, dass er wirklich gut zusammenpasst mit unserer modernen Lebenswelt und dem, was wir heute von der Ordnung der Natur wissen.

Vielleicht fragen Sie: Warum sollte man überhaupt Gott (nicht nur, aber auch) philosophisch verstehen können? Joachim Galuska hat kürzlich in evolve im Gespräch mit Tom Steininger zurecht betont, dass wir vor lauter Intellekt nicht zumachen dürfen für das Spüren einer subtilen „Intelligenz“, die in der Welt am Werk ist. Das allumfassende Verflochtensein und Weben dieses Sinns, wie ich es nennen würde, lässt das, was wir durch Verstand, Wissenschaft und Philosophie heute erkennen können, sicherlich bescheiden aussehen. Trotzdem: Wenn Spiritualität modern sein will, muss sie auch modern denken.

 

Oliver Griebel M.A., 1964 in München geboren, hat Übersetzer und Philosophie studiert und ist Autor von “Der ganzheitliche Gott”. Er lebt in Stuttgart.
www.olivergriebel.bodautor.de