Oliver Griebel: Sinn der Evolution – Evolution des Sinns

evoSinn der Evolution – Evolution des Sinns

Auf unserem Blog diskutierten der Philosoph und Autor Oliver Griebel und der Biologie und Philosoph Axel Ziemke über das Buch “Geist und Kosmos” von Thomas Nagel (Teil 1 und Teil 2 dieser Diskussion). In der Folge dieses Austauschs, in dem es um die Frage ging, welche Wirklichkeit der Evolution unseres Universums zugrunde liegt, hat Oliver Griebel seine Gedanken zu diesem Thema noch einmal ausformuliert und erklärt und vergleicht die verschiedenen Verständnisansätze des evolutionären Geschehens.

“Mind, in my view, is doubly related to the natural order. Nature is such as to give rise to conscious beings with minds; and it is such as to be comprehensible to such beings. Ultimately, therefore, such beings should be comprehensible to themselves.“ (Der menschliche Geist steht in einer zweifachen Beziehung zur Ordnung der Natur. Die Natur ist so, dass sie bewusste Wesen mit einem Geist hervorbringt; und sie ist so, dass sie solchen Wesen verständlich ist. Letzten Endes sollten deshalb solche Wesen sich selbst verständlich sein.) Mit wunderbaren Sätzen wie diesem griff letztes Jahr einer der wichtigsten zeitgenössischen Philosophen, der Amerikaner Thomas Nagel, in seinem Buch „Geist und Kosmos“ die heute bei Akademikern und Intellektuellen fast unangefochten herrschende Lehre von der zufälligen Entstehung des Lebens und des Geistes an, genannt Neodarwinismus-Reduktionismus. „Der Feind meines Feindes ist mein Freund: Wenn der Philosoph und Atheist Thomas Nagel den Materialismus von innen her widerlegt, dann kann mir egal sein, was er sonst noch über Gott und den Menschen sagt.“ So oder ähnlich haben sich da viele spirituelle Menschen wohl gedacht. Aber für Nagel muss es so etwas wie eine natürliche Tendenz („Teleologie“) der Evolution hin zum Lebendigen und Geistigen geben, eine lebendig-geistige Dimension der Naturgesetze und des Universums von Anbeginn an, und das ohne göttlichen Plan. Wenn Nagels Kritik am neodarwinistischen Reduktionismus zutrifft, dann trifft sie also auch das theistische Gottesbild – und wohl jedes andere Gottesbild, in dem der sinnhafte Zusammenhang der Welt („die Intelligibilität“) erst von einem transzendenten Gott in die natürliche Ordnung hineingebracht wird, und nicht schon in dieser selbst liegt. Der Feind meines Feindes ist also hier nicht unbedingt nur mein Freund. Welche der heute gängigen Gottesbilder würde Nagels Kritik treffen? Und wie sind, umgekehrt, Nagels Ideen aus der Warte dieser Gottesbilder zu beurteilen?
Letzten Sommer rezensierten Axel Ziemke und ich Nagels Buch im Blog der Zeitschrift evolve. Im Anschluss an Axels Blog-Beitrag kam es zu einer lebhaften Diskussion zwischen ihm und mir. Axels „Problem“ mit Nagel ist, dass seiner Meinung nach erstens die evolutionär ungerichtete Entstehung von Leben und Geist eben nicht so unwahrscheinlich ist wie von Nagel behauptet, und dass zweitens eine von vornherein auf Leben und Geist ausgerichtete Evolution nach Axels Meinung eben doch, anders als Nagel behauptet, so etwas wie eine göttliche Absicht voraussetzt. Was Axel von seinem Gottesbild eines allschöpferischen, aber absichtslosen „Nichts“ her ablehnt. (Eine solche anti-transzendente Position, die den Geist aber dennoch nicht auf Materie reduzieren will, nenne ich einen Naturalismus.)
Meine wesentlichen Punkte gegen Axel waren erstens, dass eine biologisch-kulturelle Evolution des Geistes, wie er sie beschreibt, gar keine materialistisch-reduktionistische Evolution mehr ist, da sie nicht nur auf Gesetzen der Physik und des Überlebens basiert, sondern schon die Begriffe der Information und des Verstehens voraussetzt. Womit im weitem Sinne Geistiges an der Evolution mitwirken kann. Zum Begriff der göttlichen Absicht bzw. Absichtslosigkeit musste ich Axel als spirituellen Menschen zweitens doch einmal fragen, was das für ein Universum sein soll, das einen göttlichem Urgrund egal welcher Art hat, in dem sich aber dennoch auch kein Leben und Geist hätten entwickeln können. Das finde ich abwegig. Für mich ist klar: Wenn es einen Gott gibt, dann muss sich in der Welt – unter geeigneten Bedingungen – irgendwann einmal auch Leben und Geist entwickeln. Und auch dass die dafür passenden Randbedingungen einmal ergeben, kann für mich kein Zufall sein. Ein Gott ohne Schöpfung, ein Gott ohne Geschöpfe – was soll das bedeuten?
Im Februar soll jetzt im Rahmen des Akademie-Kreises der Herbstakademie Frankfurt ein Colloquium zu dem Thema stattfinden, und dazu möchte ich mit diesem Text vorbereitend etwas beitragen. Bei der bisherigen Diskussion fand ich unbefriedigend, dass zwar klar wurde, dass die Positionen nicht etwa nur von wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängen, sondern immer erst einmal von dem Gott bzw. dem Atheismus, an den einer glaubt. (Es ging und geht in der Philosophie im Grunde immer darum, was Geist im Menschen ist, und was über ihn hinaus, also auch um die Frage nach Gott.) Es kamen aber nur einige der heute vertretenen Kombinationen von Naturphilosophie und Gottesbild zur Sprache. Bis heute scheint es sehr vielen Menschen außer Materialismus-Atheismus oder Theismus-Intelligent-Design keine denkbare Option zu geben. Thomas Nagels Position, die ich Teleologie-Atheismus nenne, und Axels Naturalismus-Pantheismus zeigen aber bereits, dass es weitere Optionen gibt.
Versuchen wir einmal, die Unterscheidungen zu klären, die die verschiedenen Standpunkte begründen. Ich will einmal drei davon nennen:

1. Naturalismus vs. Kreationismus: Die einen sagen, die Welt sei ganz natürlich zu erklären, für die anderen ist sie nicht zu erklären ohne irgendeine Art von planvollem schöpferischem Handeln, einem Erschaffen der Natur und/oder einem Eingreifen in sie.
2. Reduktionismus vs. (polarer) Dualismus bzw. Panpsychismus: Die einen sagen, die Welt sei nur Materie, die anderen sagen, die Welt sei (wenigstens auch) wesentlich Geist.
3. Kontingenz vs. Intelligibilität: Die einen sagen, die Welt sei (bis vielleicht auf einige mathematisch-mechanische Naturgesetze) Zufall, die anderen meinen, sie ein im Ganzen sinnvoller Zusammenhang, und könne uns deshalb in Grundzügen wirklich verständlich werden.
Es ist üblich, auf der einen Seite Naturalismus, Reduktionismus und Kontingenz zusammenzubringen, und auf der anderen Seite Kreationismus, Dualismus (bzw. Panpsychismus) und Intelligibilität. Nagels oder auch Ziemkes Position kombinieren die Begriffe/Ideen anders.
Aber es gibt noch einige weitere Möglichkeiten, so dass sich eine recht ansehnliche Liste der Anschauungen zur Evolution des Geistigen ergibt:
1) Theismus–Intelligent-Design (z.B. Michael Behe, Franz von Kutschera): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist sind keine Naturgesetze oder deren zufälligen Ergebnisse, sondern göttliches Handeln, entweder Eingriffe von außen in die Welt/Natur, oder ihr zusätzlich zu den Naturgesetzen quasi „einprogrammiert“.
2a) Atheismus-Materialismus (z.B. Richard Dawkins): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist sind nur zufällige Ergebnisse von Physik und Evolution, keine eigenen Naturgesetze, und kein göttliches Handeln.
2b) Atheismus-Teleologie (Thomas Nagel): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist sind eigene Naturgesetze (Gesetze der Selbstorganisation, Komplexitätssteigerung, Entstehung von in sich Wertvollem), keine zufälligen Ergebnisse von Physik und Evolution, und kein göttliches Handeln.
3a) Pantheismus-Naturalismus (z.B. Axel Ziemke, Thomas Metzinger): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist sind nur zufällige Ergebnisse von Physik und (biologischer sowie kultureller) Evolution, in denen sich aber kein göttliches Handeln i.e.S ausdrückt, sondern die Kreativität des numinosen „Nichts“ – denn im Wesen und Wirken dieses Nichts liegen keine Gefühle, Absichten, Gedanken.
3b) Pantheismus-Idealismus (z.B. Leibniz, Anthroposophie(?), Gerhard
Höberth): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist weder zufällige Ergebnisse von Physik und Evolution, noch eigene Naturgesetze, noch ein einheitliches göttliches Handeln, sondern so etwas wie die Widerspiegelung göttlicher „Funken“ durcheinander.
4a) Panentheismus-Naturalismus (z.B. David Ray Griffin (Prozess-Theologie), Oliver Griebel, Thomas Görnitz(?)): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist sind Naturgesetze eigener Art, und gleichzeitig in besonderer Weise göttliches „Handeln“, denn die natürliche Ordnung ist ihrer allumfassend, sinnhaft, liebevoll, sich ihrer selbst bewusst.
4b) theistischer Panentheismus-Naturalismus (z.B. Arthur Peacocke, Philip Clayton): Die Entstehung von Leben, Bewusstsein und Geist sind Naturgesetze eigener Art, und gleichzeitig in besonderer Weise göttliches „Handeln“, denn die endliche Welt und ihre natürliche Ordnung ist Teil des unendlichen Gottes selbst.

Besonders 3b, 4a und 4b setzen im Gottesbild zwar verschiedene Akzente, sind sich aber doch recht ähnlich, sie stimmen insbesondere in der Erklärung der Evolution von Leben, Bewusstsein und Geist gut überein – weil sie alle versuchen, Gott eng mit unseren modernen Weltwissen über Natur und Mensch zu verbinden. Für diese Gottesbilder ist Nagels Argumentation hoch willkommen – zumal es schwer einzusehen ist, wie eine intelligible Ordnung nicht irgendwie gewollt bzw. sich ihrer selbst bewusst sein sollte. Aber das heute einflussreichste und verbreitetste spirituelle Gottesbild geht sicher eher in eine andere Richtung, nämlich des Pantheismus-Naturalismus (3a) von Thomas Metzinger oder auch Axel Ziemke. Dort werden die Welt und ihre Gesetze nicht als eine in sich sinnhafte Ordnung (und Evolution) gesehen, sondern eher als eine zu überwindende Schein-Ordnung, als eine Art Traum Gottes, als „Illusion einer Illusion“, als ein Irrtum über das wahre Wesen der Dinge. Aber mir leuchtet einfach nicht ein, wie aus einem Gott, der im Grunde nichts will und auch nichts versteht, unsere im Ganzen so komplex und sinnhaft zusammenhängende Welt hervorgehen kann. Die Theodizee, also die Frage, wie es in einer von einem guten Gott so gewollten Welt soviel Durcheinander, Sinnlosigkeit, Leid geben kann, weist für mich nicht auf Gottes Absichtslosigkeit hin, sondern auf wesentliche Grenzen der göttlichen Macht. Für mich kein Problem, denn ich bin ja kein Theist.
Wenn wir schon vom Theismus reden, möchte ich bei der Gelegenheit auch gleich klarmachen, dass ein moderner Begriff des Geistes sicherlich sehr verschieden wird sein muss von einem traditionell-christlichen, aber auch von manchem der vielen buddhistisch oder hinduistisch inspirierten. Was in den Begriff des Geistigen hinein müsste, ist sehr vielschichtig und oft auch schillernd. Hier einige wichtige Aspekte:

– Fühlen, Wollen und Erleben
– Subjektivität (Ich-Perspektive auf meine Welt)
– Verstehen, Erkennen, Lernen
– zwischenmenschlicher Austausch
– der kulturelle „Raum“ von Symbolen, Habitus, Sprache, Rollen usw.
– ideale Gegenstände der Vernunft (Mathematik, Logik, Religion, Moral und Philosophie, auch z.B. Musiktheorie, Ökonomie)
– spirituelle Erfahrung und Gottes Geist

Das alles auf elementare Physik und Überlebenswert reduzieren zu
wollen ist sicherlich sehr, sehr kühn. Aber auch die sprachlich-kulturelle Selektion, die zur Erklärung des Geistigen oft an die biologische quasi angehängt wird, leistet ja, wie schon weiter oben angedeutet, keine Reduktion auf eine selbst im weitesten Sinn materielle Basis. Erstens sollte man zugeben, dass sogar Biologie keine reine Wissenschaft der Physik und Biochemie ist, sondern auch eine der Information. Nicht einmal die Speicherung, geschweige denn die Bedeutung dieser biologischen Information kann man einfach als rein physikalisch voraussetzen. Zweitens kann man Kultur und noch mehr Sprache nicht erklären, ohne Wesen vorauszusetzen, die verstehen und meinen. (Man kann auch nicht einfach mehr Bewusstsein durch immer höhere Formen des Lernens „erklären“.)
Ich habe mich oft gefragt, warum materialistische Philosophen des Geistes wie taub sind für das vielleicht wichtigste Argument ihrer Gegner: das Subjektive und Geistige im Menschen ist weder logisch noch empirisch dasselbe wie das Objektive und Körperliche; was ein Wesen erlebt, ist nicht einfach als Struktur, Bewegung oder Veränderung im Raum vorhanden oder beschreibbar. Wie ich für mich bin, kann man nicht voll von außen beschreiben. Und was ich nach außen tue, ausdrücke, sage, kann man nicht erklären ohne das, was ich für mich bin. Alle reduktionistischen Versuche, es doch zu tun, sind an Gegenargumenten gescheitert, und die Materialisten fangen unverdrossen immer wieder von vorne an. Zuletzt hat die Neurophilosophie allen Ernstes versucht, Geistiges als Neuronenmuster im Gehirn zu erklären.
Wenn wir den grundlegenden Unterschied zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen dagegen akzeptieren, dann stehen wir vor dem Problem, den offenkundig engen Zusammenhang zwischen unserem Seelenleben und dem Leben unseres Körpers in der Welt zu erklären. Dass dieser Zusammenhang sich evolutionär zufällig so ergeben haben könnte, das kann weder wissenschaftlich noch philosophisch eine ernsthafte Erklärung sein. Das Zusammenspiel von Geist und Materie in Lebewesen und Personen sollte als Grundtatsache gesehen werden. Leider wäre da noch sehr viel zu erhellen: Nicht nur das erste Auftreten des Lebens, nicht nur das erste Auftreten fühlender Lebensformen, sondern auch das Auftreten einer verstehenden, sprechenden, denkenden Lebensform wie unserer, auch die Entstehung jedes einzelnen fühlend-bewussten Wesens und jedes Menschen aus Keimzellen, sowie die „Produktion“ von Leben, Bewusstsein und Geist durch Körper, die ja aus toter Materie bestehen, die erst einmal einfach physikalisch und chemisch funktioniert. Eine moderne spirituell ausgerichtete Weltanschauung sollte sich dieser Herausforderung – hier passt der Ausdruck wirklich einmal sehr gut – bewusst sein.

Literatur zum Thema:
Michael Behe: Darwins Black Box
Philip Clayton / Stephen Knapp: The Predicament Of Belief
Richard Dawkins: Die Schöpfungslüge
Thomas Görnitz: Die Evolution des Geistigen
Oliver Griebel: Der ganzheitliche Gott
David Ray Griffin: Panentheism and Scientific Naturalism
Gerhard Höberth: Evolutionärer Idealismus
Franz von Kutschera: Philosophie des Geistes; Was vom Christentum bleibt
Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel
Thomas Nagel: Geist und Kosmos
Arthur Peacocke: All That Is
Axel Ziemke: Im Netzwerk der Unsterblichkeit